Das Internationale Leipziger Festival für Dokumentar- und Animationsfilm [kurz: DOK Leipzig] schloss nach sechs Tagen, rund 300 Filmen aus 50 Ländern und einem regen Besucherandrang von rund 47.000 Zuschauern seine 61. Festival-Ausgabe. Für große Aufregung sorgte der deutsche Wettbewerbssieger Lord of the Toys. Am dritten Tag drohte das Festival, aus den Fugen zu geraten.
Noch vor der Premiere von Lord of the Toys weigerte sich das Kino, den Film zu zeigen. Das Leipziger Aktionsnetzwerk und die regionale Zeitung sahen in dem Film vordergründige und gefährliche Nazi-Propaganda - ein Film, der nicht gezeigt werden darf. Damit wurde eine äußerst wichtige Aufgabe der Dokumentation deutlich, den Dokumentarfilm als Chance zu begreifen, gesellschaftliche Phänomene sichtbar zu machen, und eben nicht, Unangenehmes auszublenden. Warum dann der große Aufschrei?
Zweieinhalb Monate sind die Ludwigsburger Filmstudenten Pablo Ben Yakov und sein Kameramann André Krummel einer Clique Dresdner YouTuber gefolgt - ein paar Jungs, Anfang 20, und wenige Mädchen, die bei den Saufexzessen sowieso nicht mithalten können. Schon die ersten 10 Minuten Film sind eine einzige, quälende Einstellung ohne Schnitt. Wir sehen junge Menschen in einer verwahrlosten Wohnung, wo auch mal ein Hakenkreuz wie selbstverständlich an der Wand prangt, die sich bis zum Exzess ins Koma saufen, mit rassistisch und sexistischen Sprüchen prahlen, und die, mit der Sprayflasche im Anschlag, den Kumpel gerne auch mal „vergasen“. Dabei ist die Kamera, bei fast unangenehmer Nähe, immer dicht dran.
Was das Thema des Films so brisant macht, ist die Darstellung einer Person, die sich als smarte Führerfigur langsam aus dem Ei pellt, wie sie ihre Jünger versammelt und zur Aktion anheizt. Max ist 20 Jahre alt, ein charismatischer Typ, mit hunderttausenden Followern in den Sozialen Medien, ein Meister der Selbstvermarktung, der die Anwesenheit der Kamera für sich zu nutzen weiß. Keiner vermag vorauszusehen, was aus spätpubertärer Langeweile, Verwirrung und Infantilität, aus der offensichtlichen Abwesenheit sozialer Kompetenz noch erwachsen wird. Das macht den Film so brisant.
Vor diesem Hintergrund der turbulenten Berichterstattung und der kontroversen Reaktionen, sowohl im Netz als auch auf dem Festival, äußerte sich die Festivalleiterin Leena Pasanen souverän und klar: »Wir teilen nicht die Haltung, dass dieser Film affirmativ ist. Mit seinen präzisen Beobachtungen und einer kritischen Einordnung legt er eine Jugendkultur und deren erschreckende Sprache offen, die das Internet bewusst nutzt - mit weitreichenden Folgen in den Alltag. Als im Osten verwurzeltes Festival sehen wir die Notwendigkeit, diese Themen und Realitäten in unserem Programm abzubilden und Debatten anhand einer filmischen Auseinandersetzung anzustoßen. Die Erfahrung zeigt, dass es gerade die Filme mit einem lokalen Bezug sind, die Wunden aufreißen. Die Reaktionen aus den letzten Tagen verdeutlichen, dass hier dringender Gesprächsbedarf besteht.«
Sie entschied nach den Tumulten sofort, den Film im Programm zu lassen, und das Kino zu dessen Vorführung zu verpflichten. Am letzten Festivaltag wurde der Film erneut ins Programm aufgenommen - bei vollem Kinosaal und einer Schlange von wartenden Menschen, die auf ein zusätzliches Ticket hofften. Lord of the Toys ist ein ebenso verstörender wie souveräner Film über eine Parallelwelt, der das deutsche Kino noch nie so nah kam. Was im Festival-Trailer noch vorsichtig mit „Positive Disturbance“ tituliert wird, findet seine Umsetzung. Hier wird Meinungspluralität, Toleranz und gegenseitiger Respekt gezeigt. Das Festival DOK Leipzig hat dadurch für mich noch mehr an Wichtigkeit gewonnen.
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Die italienische Regisseurin Claudia Tosi, die mit ihrem Film I had a Dream gleich mit drei Hauptpreisen (Preis der Internationalen Jury, Preis der interreligiösen Jury und Fipresci Preis) ausgezeichnet wurde, stieß in ihrem Heimatland Italien ebenfalls auf unerwartet heftige Reaktionen. Claudia Tosi begleitete zwei Politikerinnen durch das letzte politische Jahrzehnt in Italien - Manuela als Abgeordnete des Italienischen Parlaments und Daniela in der Lokalpolitik Modenas.
Beide sind Freundinnen und Leidensgenossinnen im Kampf um Gleichberechtigung zwischen den Geschlechtern, für bessere Gesetze zum Schutz vor häuslicher Gewalt gegen Frauen und für ein diverses Gesamtbild politischer Verantwortungsträger. In Zeiten, in denen sich bewußte gesellschaftliche Spaltung, offener Rassismus, Frauenfeindlichkeit und Populismus als Option politischen Handelns beobachten lassen, verkörpern Claudia Tosis Protagonistinnen positive Vorbilder, die Hoffnung und Lust auf Teilhabe an der Politik machen wollen. Umso erstaunlicher ist die überaus negative Reaktion, die bereits die Veröffentlichung des Filmtrailers in Italien ausgelöst hat.
Auf der Preisverleihung des Leipziger Dokumentarfilmfestes gab die Regisseurin bekannt, dass sie zum Schutz ihrer Protagonistinnen und sich selbst den Film in Italien nicht zeigen könnte. Es ist unerträglich, einen Film nicht zeigen zu können, weil die Reaktionen des Publikums auf einmal persönlich und gefährlich werden. Hat sich die Gesellschaft schon soweit von der Politik und Gesetzgebung entfremdet und gelöst, dass man bei kontroverser Meinung gleich um sein Leben fürchten muss?
Sowohl auf die heftigen Reaktionen in Leipzig zur Vorführung von Lord of the Toys wie auch in Italien zum Trailer von I had a Dream klingen die Worte der Festivalleitung, „Positive Disturbance“, fast versöhnlich. Unmissverständlich bleibt dabei die Aufgabe des Dokumentarfilms und der Auftrag dieses so wichtigen Dokumentarfilmfestes in Leipzig: Keine Zensur und die Freiheit der Presse. ■ bh
28. November 2018
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