Kinostarts März 2016
Regisseur László Nemes fand ein Buch mit Texten von damaligen Mitgliedern des Sonderkommandos, die ihre täglichen Aufgaben niederschrieben und versteckten, bis sie nach den Aufständen 1944 gefunden wurden. Sie waren Gefangene der SS, die die Gefangenentransporte von deren Ankunft bis zur Gaskammer begleiteten. Sie stellten sicher, dass sich alle auszogen, räumten hinterher die Umkleide leer und transportierten die Leichen ins Krematorium.
In Nemes' Film folgt die Kamera dem Ungaren Saul Ausländer (gespielt vom Schriftsteller Géza Röhrig, der eigentlich kein Schauspieler ist!), der kaum kein Wort Deutsch spricht, stets um ihn herum kreisend, mal seine Blicke einfangend, mal den Blick über die Schulter gerichtet, und stets den Fokus auf den Nahbereich gelegt. Nemes legte großen Wert auf die Geräusche - Stimmen, Schreie, Geweine von Kindern, Geräusche von Transportvehikeln, Schritte, Türen, Tore, Luken - Geräusche, die damals allgegenwärtig waren, die die Hölle beschrieben, durch die die Menschen damals gegangen sind.
Zu Beginn des Films, bevor man mitbekommt, was Sache ist, ist man zunächst genervt von dieser Tonschleife, die immer wieder dieselben Geräusche beinhaltet. Dann sehen wir Saul, der einen Transport begleitet, weiterhin die Tonspur, aber der Ton passt nicht zu den Bildern, die wir sehen. Das frustriert in etwa so, als wenn man Bild und Ton verzögert wahrnimmt. Erst als Saul und die anderen Mitglieder des Sonderkommandos ins Innere gelangen, ändert sich die Tonspur und man konzentriert sich auf die Optik.
Alles geht schnell, die SS-Offiziere wirken wie Sklavenantreiber. Ihre abwertenden Stimmen wirken wie Peitschenhiebe: „Schneller! Schneller, Judenpack!“ Man bekommt einen Einblick in den Tagesablauf des Sonderkommandos. Alles muss schnell gehen. Zum Durchwühlen der Kleidungsstücke bleibt kaum Zeit. Als Zuschauender ist man ständig auf einem audiovisuellen Adrenalintrip. „Mach! Mach! Los! Los!“ Zum Verschnaufen fehlt die Zeit.
Man bekommt einen Einblick in die unvorstellbar grausame Maschinerie der Judenvernichtung. Die Mitglieder des Sonderkommandos hatten zwar ein wenig Bewegungsfreiheit, doch auf dem Rücken ihrer Jacken stets ein rotes Kreuz, um sie besser treffen zu können, sollten sie einen Ausbruch wagen. Auch wurden in einem Intervall von einigen Wochen/Monaten die Sonderkommandos exekutiert und neue wurden zusammengestellt, damit niemand von diesen Greueltaten berichten konnte.
Als Saul dann Zeuge wird, wie ein Junge die Gaskammer überlebt, wieder bei Bewusstsein nach Luft schnappt und schließlich vom Arzt mit den Händen über den Atemwegen erstickt wird, muss Saul an seinen eigenen Sohn denken, den er seit Jahren nicht gesehen hat. Als er Ähnlichkeiten vermutet, macht er sich sofort auf die Suche nach der Identität des Jungen. Doch auch trotzdem er sie nicht findet, beschließt er, dem Jungen ein würdiges Begräbnis zu geben - ein nahezu aussichtsloses Unterfangen!
»Stücke aus Autopsie - wo sind?« - Saul
Leichen, die der Forschung dienten, warum es diverse Überlebende der Gaskammern gab, wurden als „Stücke“ bezeichnet. Saul findet auch tatsächlich einen Arzt mit ein wenig Mitgefühl, der ihm die nötigen Auskünfte gibt. Aber allein die Vorstellung, dass Saul auf diese irrsinnige Idee kommt, ist auch nur mit Irrsinn nachzuvollziehen. Hin und wieder gibt es Menschen, die sich im systematischen Chaos irrational verhalten, und damit wiederum andere, unvorhersehbare Geschehnisse auslösen.
Saul gelangt bei der Suche nach einem Rabbi an den sich organisierenden Widerstand, dessen Ziel es war, die Judenvernichtung im KZ zu manipulieren, und dabei hoffentlich auch fliehen zu können. Bei den Vorbereitungen arbeitet Saul mit einem Schlosser zusammen, der mit versteckter Kamera Fotos vom Geschehen macht. Als dann schließlich die Hölle losbricht, die SS die KZ-Aufsicht trietzt, die Vorgänge zu beschleunigen, dann der Ofen ausgeht und die antransportierten Juden direkt vor einem riesigen Loch mittels Kopfschuss hingerichtet werden, gelingt es doch tatsächlich einem Teil des Sonderkommandos, dem Lager zu entfliehen, und noch dazu Saul mit dem toten Jungen im Arm!
Es ist schon grausam, das alles mit ansehen zu müssen, auch wenn man es nicht explizit sieht, denn die aufgestapelten und umhergezogenen nackten Leichen werden stets unscharf im Hintergrund dargestellt. Aber das reicht schon, um die Grausamkeit der Nazis darzustellen. Als die Gruppe Flüchtiger dann irgendwann im Wald Ruhe findet, kann man im Kinosaal auch ein wenig Ruhe finden, um die Geschehnisse zu reflektieren. Immerhin ging Sauls Plan in Luft auf, denn er hat keinen Rabbi gefunden, der das Kaddish aufbeten konnte, und verlor den Leichnam bei der Durchquerung eines Flusses, um den Spürhunden zu entkommen, denn Saul selbst konnte nicht schwimmen und musste gerettet werden!
Schließlich verpufft der Film in einer Hütte im Wald, in der die Flüchtigen Unterschlupf finden. Als dann ein kleiner blonder Junge mit blauen Augen die Gruppe dort entdeckt, holt dieser natürlich Hilfe. Und es kommt, wie es kommen musste. Als der Junge wiederkommt, und den Aktionen zusieht, verlässt die Kamera Saul und richtet sich auf den Jungen, bis dieser im Wald verschwindet. Das mag alles zwar filmisch wertvoll erscheinen, doch es erschließt sich mir lediglich, die Grausamkeiten der KZ-Maschinerie auzuzeigen, ohne genau hinsehen zu müssen. (Die Handkamera erledigt den Rest, dass man nichts erkennen kann und man immer wieder mal die Augen schließen muss...) Der Rest, Saul, der Junge, quasi der ganze Film machen wenig Sinn!
Man kann nur die Sinnlosigkeit nachvollziehen - die Sinnlosigkeit der Tötung der Juden, wie auch die Sinnlosigkeit der Juden, Hoffnung zu finden. Insofern ist der Film auch inhaltlich sinnlos. Er besitzt lediglich historischen, symbolischen Charakter, denn wenn man auch nur versucht, irgendwelche Beweggründe zu hinterfragen, bekommt man keine Antworten. Dass der Film mit dem Oscar® ausgezeichnet wurde und so viele Kritiker den Film zu einem Meisterwerk hochloben, kann insofern nur daher rühren, dass das Thema an sich noch lange nicht abgeschlossen ist. Und solche Filme sind nun mal da, um zu mahnen und zu erinnern, zu gedenken und zu hoffen, dass so etwas nicht wieder geschieht... ■ mz