Kinostarts Januar 2016
Seit zwei Jahrhunderten ruft Hugh Glass' Geschichte großes Erstaunen hervor. Selten ist ein Mann, ob körperlich oder geistig, so über sich hinausgewachsen. Über die frühen Jahre des historisch verbrieften, 1773 in Philadelphia geborenen Glass weiß man nur wenig. 1823 unterschrieb er einen Arbeitsvertrag bei Captain Andrew Henry, der eine Expedition leitete, in deren Verlauf der Missouri River erforscht werden sollte. Als die Forscher nahe eines Ortes, den man heute als Lemmon, South Dakota, kennt, Halt machten, wurde Glass von einem Grizzlybären überfallen und schwer verletzt. Die Männer, die abgestellt wurden, um auf ihn aufzupassen, ließen ihn jedoch in Stich, weil sie fälschlicherweise annahmen, dass er bald sterben würde.
Glass selbst hat keine persönlichen Aufzeichnungen hinterlassen. Es existiert lediglich ein Brief an die Eltern eines Begleiters, der von den Arikara-Indianern getötet wurde. Als er unerwartet lebendig auftauchte, war dies eine Sensation, die in allen Zeitungen landesweit für Schlagzeilen sorgte. Seit jenen Tagen sind immer wieder Biographien und Bücher über Glass erschienen, aber erst 2002 publizierte Michael Punke den ersten ernstzunehmenden, sorgfältig recherchierten Roman über den Trapper und dessen Leben - „The Revenant: A Novel of Revenge“. Interessanterweise arbeitete Punke auch als Handelsvertreter und hat sich von Kindheit an mit dem Leben der Trapper beschäftigt, und sich dabei besonders für Glass interessiert. So ist wohl das detailreichste Buch entstanden, das je über den legendären „Mountain Man“ verfasst wurde.
»Leave the pelts!« - Captain Andrew Henry
Die Sage um Glass beginnt im Jahr 1823, als er sich wie Tausende andere Menschen ins Pelzgeschäft begibt, einer neuen Kraft in der US-Wirtschaft. Es war die Zeit, in der man beschloss, die Wildnis zu erobern und zu besiedeln. Und dazu bedurfte es besonders tapferer Männer, die ins noch unbekannte Territorium strömten, befuhren unbekannte Flüsse und verschwanden in dichten Wäldern – nicht aus Abenteuerlust, sondern allein wegen des zu erwartenden Profits. Das führte zu harten Auseinandersetzungen mit den eingeborenen Stämmen, die dieses Land seit Urzeiten bewohnten und als ihr Zuhause beanspruchten.
Viele dieser Männer starben, ohne dass man sich an ihre Namen erinnert, aber Glass hat es in die Annalen der amerikanischen Folklore geschafft – schlichtweg deshalb, weil er nicht aufgab. Seine Legende begann damit, dass er eines Tages einem der im Westen gefürchteten Grizzlybären gegenüberstand. Für die meisten noch so tapferen und erfahrenen Trapper hätte dies den sicheren Tod bedeutet. Nicht so für Glass. In Alejandro González Iñárritus Version der Mär klammert sich der schwer verletzte Glass ans Leben – und wird gleichzeitig von seinen Begleitern im Stich gelassen.
Doch bis dies geschieht, ist schon mal eine knappe Stunde vergangen. Der Film beginnt mit zwei Szenarien: Glass ist mit seinem indogenen Sohn und einigen Begleitern im sumpfigen Wald auf der Pirsch nach Watapis, während in der Nähe die Jäger ihre Biberfelle für den Transport zusammenschnüren. Als ein Schuss fällt, löst dieser einen Angriff von Indianern aus, die mit ihren Pfeilen einen Pelzjäger nach dem anderen niederstrecken.
Was folgt, erinnert kameratechnisch an Iñárritus Vorgänger ►Birdman: Die Kamera schwenkt langsam von einem Täter, der zum Opfer wird, zu dessen Täter, der zum Opfer wird usw. Selten hat man solch eine Ruhe bei einem Gemetzel gesehen! Glass & Co. eilen zum Camp, um Beistand zu leisten. Etwa ein Dutzend Jäger können sich und einige Felle auf ihr Boot retten, doch um die Spuren zu verwischen, müssen sie die Felle abladen, verstecken und einen Gewaltmarsch zum nächsten Fort zu Fuß hinlegen, während ein paar Freiwillige ihren Weg mit dem Boot fortsetzen.
Glass und sein Sohn sind die Außenseiter der Gruppe, doch Glass kennt die Gegend wie kein Anderer. Der von Tom Hardy grandios gespielte John Fitzgerald, kurz Fitz genannt, ist der skeptischste der Jagdgesellschaft. Er empfindet die ganze Operation für einen Fehler und schleppt selbst ein paar Felle mit, nur damit er nicht am Ende mit leeren Händen dasteht. Und schließlich kommt das, worauf alle gewartet haben, da dies der Höhepunkt der Geschichte ist: Glass erkundet den Wald als Vorhut und stößt auf eine Gruppe Grizzlybärjunge...
Jeder, der sich mit der Wildnis befasst hat, weiß, dass die Erwachsenen dann nicht weit von ihren Jungen entfernt sind. Glass erkennt dies, wird jedoch trotzdem vom großen Bären niedergeworfen. Was dann folgt, ist einfach atemberaubend und wirkt vor allem so echt! Der Bär krallt sich in Glass' Körper, zerrt ihn hin und her, während Glass nichts anderes tun darf als sich tot zu stellen. Ganz schön was eingesteckt, füllt jedoch Glass seine Pistole und schießt auf den abziehenden Bären, woraufhin das Ganze von vorn losgeht. Doch Glass kann sich diesmal sein Messer schnappen und kämpft Mann gegen Bär, bis beide ordentlich lädiert eine Böschung hinunterfallen und der Bär auf Glass landet!
Zum Glück wird er kurz darauf auch schon von seinen Gefolgsleuten „errettet“ und notbedürftig geflickt. Doch seine Verletzungen sind so groß, dass Glass fortan getragen werden muss, was die Gruppe vor eine neue Herausforderung stellt. Also lassen sie Glass zusammen mit dessen Sohn, Fitz und dem jungen Jim Bridger (gespielt von Will Poulter, der seine Jungfrauenrolle aus ►Wir sind die Millers irgendwie nicht so recht abschütteln kann) zurück, um sie später nachzuholen.
Und dann beginnt die große Tragödie, die in den Medien im Vorfeld eigentlich falsch verbreitet wurde. Es wird überall erzählt, dass Glass sich an seinen Kumpanen rächen will, die ihn zurückgelassen haben. Doch eigentlich ist es nur einer: Fitz, der Glass' Sohn tötet und Bridger davon überzeugt, dass Glass so gut wie tot sei und dessen Sohn vermutlich abgehauen ist. Also lassen die beiden Glass im Stich, ohne zu ahnen, dass dieser sich wieder aufrappelt und Schritt für Schritt ums Überleben in der Wildnis kämpft.
Und dieser Überlebenskampf hat's in sich. Was er so alles durchmachen muss, erinnert ständig an Die nackte Kanone, in der Officer Nordberg von einem Aua ins nächste stapft. Erst wird Glass vom Bären zerschunden, dann stürzt er durch die Stromschnellen einen Wasserfall hinab, dann mit einem Pferd einen Abhang hinunter durchs Geäst... Ein normaler Mensch hätte da schon längst das Zeitliche gesegnet. Doch Glass' Überlebenswille schafft es immer wieder, entweder durch eigene gelernte Wildnis-Hacks oder auch durch unerwartete fremde Hilfe, diese Tortur zu überstehen.
»Rache liegt in Gottes Hand, nicht in meiner.« - Hugh Glass
Schließlich schafft es Glass, bis zum Fort durchzukommen - sehr zur Überraschung von Fitz und Bridger. Als Captain Henry die wahre Geschichte erfährt, ist er natürlich sofort auf Glass' Seite und geht mit ihm zusammen auf die Jagd nach dem mittlerweile mit allen Einnahmen geflüchteten Fitzgerald, was zum schneebedeckten Showdown führt...
Es wird viel von The Revenant erwartet. Ja, er ist brutal und mit Sicherheit nichts für Tierliebhaber. Abgesehen von der zäh fortschreitenden Handlung ist der Film sehr kontrastreich. Einerseits hat man zweieinhalb Stunden Laufzeit, die nicht nur lang sind, sondern auch lang wirken, vor allem durch die sphärischen Klänge von Ryuichi Sakamoto und Alva Noto, die schon mal die Augenlider schwerer machen. Andererseits will man die Augen auch unbedingt auf lassen, denn die wundervollen Landschafts- und Naturaufnahmen von Emmanuel Lubezki sind sehr sehr schön und preisverdächtig!
Da der Film auch so langatmig ist, kann man auch getrost zwischendurch aufs Klo rennen, um die Blase zu entlasten, denn es plätschert im Film von vorn bis hinten - ob Bäche, Stromschnellen oder der tauende Schnee vom Nadelgehölz - alles wirkt so natürlich, als wenn man sich mittendrin in der Schneelandschaft befindet! Eigentlich ist es auch nur eine Naturdoku, die vor knapp 200 Jahren spielt, wo sich Menschen zufällig bekriegt haben. Nein, The Revenant ist eindeutig zu lang. Eine halbe Stunde kürzer und der Film hätte ein wenig Tempo bekommen, was dem Ganzen zuträglich gewesen wäre. Nichtsdestotrotz liefern Leonardo DiCaprio und Tom Hardy grandiose Schauspielleistungen, die es trotzdem schwer haben gegen die schmachtigen Landschaftsaufnahmen... ■ mz