Green Book
Eine besondere Freundschaft
New York City 1962. Der Italo-Amerikaner Tony Lip arbeitet bereits seit 12 Jahren im Nachtclub „Copacabana“, wo er mit Größen aus dem organisierten Verbrechen in Kontakt kam, ebenso wie mit Stars aus dem Showgeschäft, darunter legendäre Namen wie Frank Sinatra, Tony Bennett und Bobby Darin. Obwohl er die Schule nach der siebenten Klasse geschmissen hatte, war er schlagfertig und charismatisch. Eigentlich heißt er Vallelonga mit Nachnamen. Seinen Spitznamen „The Lip“ erhielt er, weil er in dem einzigartigen Ruf stand, jeden von wirklich allem überzeugen zu können.
Nick Vallelonga, der älteste Sohn Tonys, wuchs mit der Geschichte über die Reise seines Vaters mit Don Shirley auf. »Sie ist Teil der Familienüberlieferung«, erzählt er, »aber ich wusste auch, dass es eine bedeutsame Erzählung über zwei sehr verschiedene Menschen aus verschiedenen Welten war, die zusammenfinden und das Leben des jeweils anderen in eine neue Richtung lenken und auch ihre Sichtweise auf andere ändern. Es ist eine erhebende Geschichte, die heute noch genauso wichtig und bedeutend ist, wie sie es immer schon war.«
Tony wuchs in der Bronx auf, weshalb seine Weltgewandtheit zu wünschen übrig ließ. Dadurch war er gesellschaftsbedingt auch ein kleiner Rassist, was man lediglich an der einen Szene zu Beginn des Films sieht, als die Vallelongas Handwerker in der Wohnung hatten, die Schwarze waren. Tonys Frau Dolores versorgte die Arbeiter nach getaner Arbeit mit einem Glas Wasser und stellte die Gläser in den Abwasch. Als Tony dann später in die verlassene Küche ging, nahm er die Gläser und verfrachtete sie in den Mülleimer, die Dolores dann später dort entdeckte und kopfschüttelnd zurück in den Abwasch stellte.
»Was mein Vater auf dieser Reise mit Dr. Shirley erlebt hat, änderte seine Sicht auf die Welt, da er Sachen erlebte, die er so noch nie gesehen und von deren Existenz er nichts gewusst hatte«, sagt Nick Vallelonga. »Und ich denke, dass das auch auf Dr. Shirley zutraf.« Als im Herbst das „Copacabana“ zwecks Renovierung schloss, musste sich Tony etwas einfallen lassen, um seine Familie zu ernähren - so z.B. einen Hot-Dog-Ess-Wettbewerb, den er zwar seinem losen Mundwerk verdankte, aber auch Geld einbrachte. Als Tony dann einsehen musste, dass er einen richtigen Job brauchte, begab er sich zu einem Bewerbungsgespräch, das sein Leben für immer verändern sollte...
»I can't eat 26 Hot Dogs every day.«
Tatsächlich hatte Don Shirley bis zu diesem Zeitpunkt ein Leben geführt, das wenig mit dem Leben der meisten Afroamerikaner in den USA gemein hatte. Er hatte in Übersee klassische Musik studiert und war in den USA vornehmlich im Nordosten des Landes aufgetreten. Als Tony ihn kennenlernte, lebte er in einer edel ausgestatteten Wohnung über der Carnegie Hall. Überall standen und lagen Artefakte herum - Mitbringsel von seinen Reisen, so auch der thronartige Stuhl, auf dem er das Bewerbungsgespräch führte.
Tony ahnte nicht, dass dieser merkwürdige, pikfein gekleidete Schwarze mit diesen merkwürdigen Dingen um sich herum schon bald einer seiner besten Freunde werden sollte. »Die Reise dauerte nur zwei Monate, aber sie hat meinen Vater für immer verändert«, fährt Nick Vallelonga fort. »Er hat gelernt, Menschen mit Rücksicht und Respekt zu begegnen. Diese Werte hat er uns vermittelt.«
Diese Reise mit Dr. Shirley ließ Tony erstmals mit eigenen Augen sehen, in welcher Not sich Schwarze in den Südstaaten befanden. Er erlebte hautnah die unablässigen Erniedrigungen und die greifbaren körperlichen Gefahren, mit denen sich Schwarze durch rassistische Gesetze und die Privilegien der Weißen ausgesetzt sahen.
Die Jim-Crow-Gesetze schränkten ein, wo Schwarze essen, schlafen, sitzen, einkaufen und gehen durften. Sie legten fest, welche Trinkbrunnen und öffentlichen Toiletten diese benutzen durften. Wenn man es genau nimmt, betrafen sie nahezu sämtliche Aspekte des Alltags. In vereinzelten Städten im Süden wurden Sonnenuntergangsgesetze verfügt, die Schwarze unter Bestrafung stellten, sich während der Dunkelheit auf den Straßen aufzuhalten. Inhaftierung war noch das Harmloseste, was passieren konnte, wenn man geschnappt wurde.
»Eyes on the front, Tony!«
Und so begaben sich die Zwei auf die Reise, während Oleg (Cello) und George (Bass), Dons Musikerkollegen, die das Don Shirley Trio vervollständigten, in einem separaten Wagen fuhren, einfach nur, weil die Reise für sie einfacher war, da sie als Weiße keinen direkten Personenschutz oder spezielle Instrumente benötigten.
Tonys Aufgabe war es, Dr. Shirleys Auftritte zu koordinieren, insbesondere darauf zu achten, dass auf der Bühne ein Steinway-Klavier stand, und, natürlich, ihn zu beschützen. »Ich hatte allen erzählt, ich würde mein erstes Drama schreiben«, erzählt Peter Farrelly, der offenbar nach Dumm und dümmehr (2014) mit Bruder Bobby getrennte Wege geht. »Aber wenn man sich die Figuren und ihre Geschichte genauer ansieht, stellt man schnell fest, dass die beiden ein wirklich seltsames Paar sind.«
Der gebildete, elegante Künstler auf der einen und der bullige, hemdsärmelige Muskelprotz auf der anderen Seite wirken fast schon wie Ein seltsames Paar. Tatsächlich könnte man sich kaum zwei unterschiedlichere Männer als Tony und Dr. Shirley vorstellen, in jederlei Hinsicht. Es dauert eine ganze Weile, bis sie anfangen zu erkennen, was sie womöglich gemein haben könnten.
»Doc ist nicht so wie die anderen Afroamerikaner, mit denen Tony in New York City groß geworden ist«, erklärt Viggo Mortensen, der eigens für die Rolle vermutlich wirklich Hot-Dog-Wettessen veranstaltet hat. »Einen Mann wie ihn hat er noch nie gesehen. Zunächst denkt Tony, dieser Typ sei reizbar, geziert, vielleicht sogar versnobt. Tony mag in vielerlei Hinsicht nicht so helle sein wie Dr. Shirley, aber seine Instinkte sind gut, er hat Straßenschläue, und er kann erkennen, dass Doc Shirley offenbar glaubt, dass Tony nicht seinem Format entspricht.
Und während Doc den Eindruck haben mag, Tony sei nützlich, weil er ein guter Bodyguard und Fahrer ist, geht er ihm auch auf die Nerven. Tony redet im Auto die ganze Zeit, raucht, isst andauernd, stellt persönliche Fragen. Doc Shirley ist Fahrer gewöhnt, die diskret und höflich sind und nur dann reden, wenn sie angesprochen werden. Man bekommt gleich von Anfang an einen ziemlich guten Eindruck davon, wer diese beiden Männer sind und welche Ansichten sie haben.«
Besonders witzig und herzerweichend sind die Szenen, in denen sie sich gegenseitig etwas beibringen - Tony zeigt dem Doc, wie man Hühnchen aus dem Eimer isst („Kentucky Fried Chicken - in Kentucky?! Like that's ever happen.“), während Don Shirley Tony beibringt, wie man Briefe an die geliebte Ehefrau schreibt. Linda Cardellini erzählt, dass die Lektüre der tatsächlichen Briefe ihr geholfen habe, ihre Figur besser zu verstehen:
»Es war toll, zu sehen, wie sehr sie sich geliebt und vermisst haben. Das hat mir viel über sie und ihre Beziehung verraten. Dr. Shirley füllte Dolores’ Leben mit Tony mit neuer Energie. Auf der Reise hilft er Tony, seiner Beziehung zu Dolores gerecht zu werden, indem er ihn beim Verfassen dieser wunderschönen Briefe unterstützt, die Dolores zutiefst bewegt haben.«
»Genius is not enough. It takes courage to change people's hearts.«
Don Shirley, der sein professionelles Konzertdebüt im Alter von 18 Jahren mit einer Darbietung von Tschaikowski mit dem Boston Pops Orchester gab, wurde von Musikmanagern abgeraten, einer Karriere in der klassischen Musik nachzugehen. Sie rieten ihm, sich auf populäre Musik zu konzentrieren, weil das weiße Publikum einen schwarzen Künstler, der klassische Musik spielt, nicht akzeptieren würde.
»Er fügte klassische Elemente in die Musik ein, die man damals für „Black Music“ hielt, was ich fabelhaft finde«, berichtet Mahershala Ali. »Aber ich denke auch, dass es für ihn sehr schmerzhaft war, nicht seiner eigentlichen Begabung folgen zu dürfen. Dr. Shirley hätte das Zeug gehabt, ein ganz Großer zu werden. Aber die Umstände zwangen ihn dazu, ein Leben voller Kompromisse zu leben.
Er war ein schwarzer Musiker, der sich in klassischer Musik hatte ausbilden lassen und diese Musik auch spielen wollte. Dies wurde ihm jedoch verwehrt, und deshalb konnte er auch nie sein ganzes Potenzial entfalten. Unsere Kultur ist von einer voreingenommenen Sichtweise auf Menschen geprägt. Und das hindert sie oftmals an ihrer Entfaltung. Das ist heute noch genauso relevant, wie es damals war.«
Man merkt auch, dass Don Shirleys Musik im Laufe des Films immer aggressiver wird, je mehr dieser mit dem Rassismus konfrontiert wird. Der Komponist der Filmmusik, Kris Bowers, ist einer der respektiertesten und talentiertesten jungen Pianisten der Musikindustrie. Er zeigte dem Schauspieler während einer dreistündigen Sitzung in einem Ausstellungsraum von Steinway, wie man vor dem Klavier sitzt und sich bewegt. »Ich wollte mich mit der Musik umgeben, das Piano kennenlernen und so viel lernen, wie es mir in der kurzen Zeit möglich war«, sagt Mahershala Ali.
»The world is full of people who are afraid to make the first move.«
Der Film bezieht seinen Titel vom „Negro Motorist Green-Book“, einem Reiseführer, der von 1936 bis 1966 jährlich neu veröffentlicht wurde, worin Läden, Restaurants und Hotels aufgelistet waren, in denen schwarze Kunden willkommen waren. Das „Green Book“, wie es gemeinhin genannt wurde, geht zurück auf einen New Yorker Postboten namens Victor Hugo Green und entwickelte sich zu einem unverzichtbaren Reiseutensil für Afroamerikaner, die mit dem Auto durch die USA fuhren.
Zunächst umfasste es nur die Umgebung von New York, aber nach und nach wurden fast ganz Nordamerika, die Karibik und Bermuda abgedeckt. In den USA war es vor allem in den Südstaaten von unschätzbarem Wert, wo die Jim-Crow-Segregationsgesetze in den verschiedenen Bezirken und Staaten unterschiedlich ausgelegt wurden und es die inoffiziellen Regeln in den so genannten „Sundown Towns“ schwarzen US-Bürgern unmöglich machten, nach Sonnenuntergang auf die Straße zu gehen.
Das „Green Book“, das in Esso-Tankstellen und über Abonnements verkauft wurde, ermöglichte es schwarzen Reisenden, ihre Trips so zu organisieren, dass sie Schikanen, Festnahmen und Gewalt aus dem Weg gehen konnten. Nachdem Präsident Lyndon B. Johnson im Jahr 1964 den Civil Rights Act unterzeichnete hatte und die Jim-Crow-Gesetze illegal wurden, war auch das „Green Book“ nicht mehr notwendig. Wenig später wurde es eingestellt. Victor Hugo Green war bereits 1960 gestorben und erlebte das Ende der Rassentrennung nicht mehr mit. Seine Witwe Alma war es, die das „Green Book“ bis 1966 weiterveröffentlichte.
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Nach mehr als 50 Jahren Freundschaft starben die beiden Freunde Tony Vallelonga und Don Shirley im Jahr 2013 im Abstand von nur drei Monaten. Tony starb am 4. Januar 2013 im Alter von 82 Jahren, Don am 6. April im Alter von 86. Nach einer Phase der Trauer wandte sich Nick Vallelonga der Geschichte wieder zu und wusste: Die richtige Zeit für den Film ist gekommen.
Der Film besticht nicht nur durch die beiden Hauptdarsteller, die sich bereits vor 2 Jahren während der Filmpreis-Saison kennengelernt haben und sich sofort verstanden. Mahershala Ali erhielt einen Oscar® für seine Nebenrolle in Moonlight, während Viggo Mortensen für seine Hauptrolle in Captain Fantastic leer ausging. Jetzt sind sie wieder beide in denselben Kategorien nominiert, diesmal jedoch für den gleichen Film.
Green Book ist einer der besten Filme des letzten Jahres, auch wenn die Driving-home-for-Christmas-Geschichte hier nicht ganz so passend einen Monat nach Weihnachten in die Kinos kommt. Auch der ebenfalls in dieser Woche startende Plötzlich Familie wäre ein idealer Weihnachtsfilm für die ganze Familie, doch die Verleih-Logistik hinkt da ein wenig hinterher.
In dem Film stimmt einfach alles - die Chemie der Schauspieler untereinander wie auch mit ihren Rollen, die Inszenierung, die Bilder, die Musik... Dank Peter Farrelly wirkt der Film weder bierernst noch klamaukisch und beweist, dass man ein ernstes Thema auch unterhaltsam in einen Film unterbringen kann. ■ mz
10. Februar 2019
Drama/Komödie/Biografie
USA 2018
130 min


mit
Viggo Mortensen (Tony „Lip“ Vallelonga)
Mahershala Ali (Dr. Donald Walbridge Shirley)
Linda Cardellini (Dolores Vallelonga)
Sebastian Maniscalco (Johnny Venere)
Dimiter D. Marinov (Oleg)
Mike Hatton (George)
Joe Cortese (Gio Loscudo)
Von Lewis (Bobby Rydell)
Don Stark (Jules Podell)
Quinn Duffy (Mikey Cerrone)
Gavin Lyle Foley (Frankie Vallelonga)
Hudson Galloway (Nick Vallelonga)
Frank Vallelonga (Rudy Vallelonga)
Don DiPetta (Louie Venere)
Iqbal Theba (Amit)
Nick Vallelonga (Augie)
Rodolfo Vallelonga (Opa Anthony Venere)
Louis Venere (Opa Nicola Vallelonga)
Mike Cerrone (Kunde bei Joe and Joe's)
u.a.

drehbuch
Nick Vallelonga, Brian Hayes Currie
Peter Farrelly

musik
Kris Bowers

kamera
Sean Porter

regie
Peter Farrelly

produktion
DreamWorks Pictures
Participant Media
Amblin Partners
Innisfree Pictures
Wessler Entertainment

verleih
entertainment One


vorspann
Logos
Inspired by a true Story

abspann
Titeleinblendung im Green-Book-Stil
Infotafeln über die Peronen
Rücklaufender Vorspann im Green-Book-Stil
normal rollender Abspann

erwähnung
keine