Capernaum - Stadt der Hoffnung
کفرناحوم
Zain ist gerade einmal 12 Jahre alt. Zumindest wird er auf dieses Alter geschätzt, denn er besitzt keine Milchzähne mehr. Der Junge hat keine Papiere, und die Familie weiß auch nicht mehr genau, wann er geboren wurde. Nun steht er vor Gericht und verklagt seine Eltern, weil sie ihn auf die Welt gebracht haben, obwohl sie sich nicht um ihn kümmern können. Dem Richter schildert er seine bewegende Geschichte - was passierte, nachdem er von zu Hause weggelaufen war und bei einer jungen Mutter aus Äthiopien Unterschlupf fand, und wie es dazu kam, dass er sich mit ihrem Baby mittellos und allein durch die Slums von Beirut kämpfen musste. Ein Kind klagt seine Eltern an und mit ihnen eine ganze Gesellschaft, die solche Geschichten zulässt.
»Ich will, dass sie aufhören, Kinder zu bekommen, wenn sie sich nicht um sie kümmern können!« - Zain
„Capernaum“ war ein biblisches Fischerdorf am Nordufer des Sees Genezareth, Wohn- und Wirkungsort Jesu. Hergeleitet von der Menschenansammlung vor Jesus Haus, bedeutet es auch „ungeordnete Ansammlung von Objekten“ oder „Chaos“, was sich vor allem im Arabischen und Französischen als Bild für einen Ort voller Chaos und Unordnung etabliert hat.
Einen solchen Ort zeigt die libanesische Regisseurin Nadine Labaki in ihrer hochemotionellen Fabel. In visuell eindrucksvollen Kinobildern erzählt der Film von den abenteuerlichen Lebensumständen jener, die von einem besseren Leben träumen, aber in unserer Welt keine Chance haben. Mitreißend inszeniert legt die Filmemacherin die Mechanismen unglaublicher, sozialer Ungerechtigkeit offen und gibt denen eine Stimme, die im Schatten leben, oft ohne Ausweispapiere und Arbeitsmöglichkeiten.
Zu Beginn des Films sehen wir, wie ein Junge im Gefängnis untersucht wird. Ein Arzt schaut in den Mund des schmächtigen Jungen und stellt fest, dass er keine Milchzähne mehr hat. Das heißt, er wird vermutlich ca. 12 Jahre alt sein. Zain verbüßt eine fünfjährige Haftstrafe, doch in einem weiteren Prozess tritt er als Kläger auf: Er verklagt seine eigenen Eltern, weil sie ihn zur Welt gebracht haben, obwohl sie sich nicht um ihn kümmern können. Im Angesicht der Eltern, unterstützt von einer Anwältin (gespielt von der Regisseurin selbst), legt Zain seinen Fall dar. Außerdem treffen wir eine junge Afrikanerin, die nach der Festnahme bei einer Razzia verhört wird. Wer diese Frau ist, wird erst viel später in der Geschichte klar, die aus der Sicht von Zain erzählt wird.
Im Vorspann sehen wir aus der Vogelperspektive Kinder, wie sie in den Gassen der Stadt Krieg spielen. Sie kennen nichts anderes, denn ihre Familien sind aus Kriegsgebieten geflüchtet. Viele leben illegal im Libanon, ohne Papiere. Der Schwarzmarkt boomt. Manche arbeiten sich kaputt, um Geld aufzutreiben - für Lebensmittel, Unterkunft, und, wenn man noch sparen kann, für einen illegalen Reisepass.
Zain lebt mit seiner Mutter Souad und seinem Vater Selim sowie mehreren Geschwistern in einem Armenviertel von Beirut. Da wird schon mal zu sechst auf einer Matratze geschlafen. Die Eltern sind illegale Immigranten, die versuchen, sich mit dem Schmuggel von Drogen ins örtliche Gefängnis über Wasser zu halten. Damit ihr Jüngstes ihnen beim Drogen-Einkochen in Kleidung nicht in die Quere kommt, wird das Kleine mit einer Kette am Fußgelenk angebunden!
Neidvoll beobachtet Zain, wie andere Kinder des Viertels im Kleinbus zur Schule fahren, während er zum Lebensunterhalt der Familie beitragen muss. Er führt Lieferungen für den Kleinhändler Assad aus. Die Familie ist in einem von Assads Häusern provisorisch unter schlechtesten Bedingungen untergebracht. Der Händler hat zudem ein Auge auf Zains Schwester Sahar geworfen. Zain, der die Beschützerrolle für seine Schwester übernommen hat, versucht alles, um Assad von ihr fernzuhalten.
Als Zain seine Eltern bittet, zur Schule gehen zu dürfen, würde die Mutter es tatsächlich erlauben. Sie sieht, wieviel Unterstützung und Essen andere Schulkinder bekommen. Davon könnte auch ihre Familie profitieren. Doch der Vater, der trinkt, hält nichts davon – sein Sohn soll lieber arbeiten! Außerdem will er Assad nicht verärgern. Um weiterhin in der Wohnung bleiben zu können, übergeben die Eltern die elfjährige Sahar schließlich für ein paar Hühner an Assad. Zain kann es nicht verhindern. Für ihn bricht eine Welt zusammen. Nichts hält ihn mehr in seinem Zuhause. Wutentbrannt läuft er davon...
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Capernaum - Stadt der Hoffnung wurde beim Filmfestival in Cannes minutenlang mit stehenden Ovationen gefeiert und gewann den Preis der Jury und den Preis der Ökumenischen Jury. Der Libanon schickt den Film als besten nicht-englischsprachigen Film auch ins Oscar®-Rennen. Der Film zeigt genau das, was Phase ist: Er ist nicht nur ein informatives Drama über die Zustände in der „chaotischen Stadt“, er ist auch gleichzeitig ein Appell an die unterbemittelte Bevölkerung, dem alten Glauben abzuschwören, Kinder ohne Ende zu zeugen und selbige zur Heirat zu verkaufen. Man sieht im Laufe des Films auch leerstehende Minarette - kein Muezzin ruft (mehr) zum Gebet!
Der Film ist eine klare Ansage, geordnete Verhältnisse zu schaffen, soziale Sicherheit und den Ausblick auf eine Zukunft. Das funktioniert aber auch nur, wenn subversive Elemente eingesperrt werden und die betroffenen Menschen sich nicht unends weitervermehren, ohne für den Nachwuchs sorgen zu können! Auch wenn das Reiß-aus-Abenteuer mit einem, so weit es geht, positiven Ende aufwartet, so hinterlässt der Film doch einen bitteren Nachgeschmack, wenn man hinterher ins gemütliche Zuhause heimkehrt. ■ mz
16. Januar 2019
Drama
RL 2018
126 min
OmU

mit
زين الرفيع (Zain)
يوردانوس شيفراو (Rahil Eresa)
Boluwatife Treasure Bankole (Yonas)
كوثر الحداد (Souad, die Mutter)
فادي كمال يوسف (Selim, der Vater)
كيدرا عزام (Sahar, die Schwester)
نور الحسيني (Abu Assaad)
علاء كوشنيه (Aspro)
نادين لبكي (Nadine al-Alaam, die Anwältin)
u.a.

drehbuch
نادين لبكي

musik
خالد مزنر

kamera
Christopher Aoun

regie
نادين لبكي

produktion
Boo Pictures
Mooz Films
Clandestino Films
Open City Films

verleih
Alamode


vorspann
Prolog, Vorspann über Filmszene

abspann
normaler Abspann

erwähnung
To Walid and Mayroun